Auf einem Spaziergang im Sommer 2014 fiel mir plötzlich auf, dass ich im Rahmen meines Theaterstudiums keine einzige Vorstellung in einem Zirkus oder einem Varieté besucht hatte. Klar, Zirkus und Varieté gehören ja nicht so recht zum Theater, sind etwas ganz anderes. Aber warum sind wir uns da so sicher? Warum denken wir eigentlich, Zirkus sei eine «niedere» oder schlichtweg keine Kunst, während das Theater als sogenannt «ernste» Kunst gilt und wie selbstverständlich zur Hochkultur zählt? Warum hält sich diese Unterscheidung bis heute so hartnäckig? Und für wen, also für welche Zuschauer:innen und vor allem für welche Gesellschaft machen und denken wir Theater? Diese und weitere Fragen mündeten unter anderem in meinem theaterwissenschaftlichen Forschungsprojekt zum Konkurrenzverhältnis von Zirkus und Theater in Berlin um 1900. In meiner Studie zeichne ein Bild der Ausgangslage des heutigen Theatersystems im deutschsprachigen Raum, das heisst sowohl der Theaterpraxis als auch der entsprechenden Kulturpolitik beziehungsweise des grundlegenden Förderverständnisses.
Ganz konkret untersuchte ich im Rahmen des Projekts die Beziehung von Zirkus und Theater zwischen 1869 und 1918 in Berlin. Im Forschungszeitraum erfuhr das Bildungs- und Literaturtheater (das heisst diejenige Form von Theater, die wir heute gemeinhin als «das Theater» begreifen) eine kontinuierliche gesellschaftliche Aufwertung und wurde ab 1918 als Institution der Hochkultur etabliert. Um 1850 hatte jedoch auch der (moderne) Zirkus einen festen Platz in der deutschsprachigen Theaterlandschaft erlangt und trat ab dann mit dem bürgerlichen Literaturtheater in Konkurrenz – insbesondere nach Einführung einer neuen Gewerbeordnung im Jahr 1869, die auch das Theaterwesen regulierte. Die Konkurrenzsituation führte nicht nur zu Diskreditierungen des Zirkus in theaterinternen Debatten, sondern auch zu politischen Vorstössen der Bühnenverbände wie der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) oder des Deutschen Bühnenvereins (DBV) gegen die Präsenz und Aufführungspraxis der Zirkusse. Doch obwohl die Theatergesetze zwischen 1880 und 1900 zu Lasten der Zirkusse verschärft wurden, war der Erfolg letzterer bis in die 1910er Jahre ungebremst. Dann kehrte sich das Kräfteverhältnis der beiden Theaterformen jedoch um. In meiner Studie beleuchte ich die komplexe Verflechtung von Akteur:innen und Faktoren, die zu dieser Wende führten und zeige ihre bis heute anhaltenden diskursiven und förderpolitischen Konsequenzen auf.
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