Theaterlobby attackiert Zirkus

Theaterwissenschaftliches Forschungsprojekt

2018 - 2022
-
Universität Bern, Schweiz

Auf einem Spaziergang im Sommer 2014 fiel mir plötzlich auf, dass ich im Rahmen meines Theaterstudiums keine einzige Vorstellung in einem Zirkus oder einem Varieté besucht hatte. Klar, Zirkus und Varieté gehören ja nicht so recht zum Theater, sind etwas ganz anderes. Aber warum sind wir uns da so sicher? Warum denken wir eigentlich, Zirkus sei eine «niedere» oder schlichtweg keine Kunst, während das Theater als sogenannt «ernste» Kunst gilt und wie selbstverständlich zur Hochkultur zählt? Warum hält sich diese Unterscheidung bis heute so hartnäckig? Und für wen, also für welche Zuschauer:innen und vor allem für welche Gesellschaft machen und denken wir Theater? Diese und weitere Fragen mündeten unter anderem in meinem theaterwissenschaftlichen Forschungsprojekt zum Konkurrenzverhältnis von Zirkus und Theater in Berlin um 1900. In meiner Studie zeichne ein Bild der Ausgangslage des heutigen Theatersystems im deutschsprachigen Raum, das heisst sowohl der Theaterpraxis als auch der entsprechenden Kulturpolitik beziehungsweise des grundlegenden Förderverständnisses.

Ganz konkret untersuchte ich im Rahmen des Projekts die Beziehung von Zirkus und Theater zwischen 1869 und 1918 in Berlin. Im Forschungszeitraum erfuhr das Bildungs- und Literaturtheater (das heisst diejenige Form von Theater, die wir heute gemeinhin als «das Theater» begreifen) eine kontinuierliche gesellschaftliche Aufwertung und wurde ab 1918 als Institution der Hochkultur etabliert. Um 1850 hatte jedoch auch der (moderne) Zirkus einen festen Platz in der deutschsprachigen Theaterlandschaft erlangt und trat ab dann mit dem bürgerlichen Literaturtheater in Konkurrenz – insbesondere nach Einführung einer neuen Gewerbeordnung im Jahr 1869, die auch das Theaterwesen regulierte. Die Konkurrenzsituation führte nicht nur zu Diskreditierungen des Zirkus in theaterinternen Debatten, sondern auch zu politischen Vorstössen der Bühnenverbände wie der Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger (GDBA) oder des Deutschen Bühnenvereins (DBV) gegen die Präsenz und Aufführungspraxis der Zirkusse. Doch obwohl die Theatergesetze zwischen 1880 und 1900 zu Lasten der Zirkusse verschärft wurden, war der Erfolg letzterer bis in die 1910er Jahre ungebremst. Dann kehrte sich das Kräfteverhältnis der beiden Theaterformen jedoch um. In meiner Studie beleuchte ich die komplexe Verflechtung von Akteur:innen und Faktoren, die zu dieser Wende führten und zeige ihre bis heute anhaltenden diskursiven und förderpolitischen Konsequenzen auf.


Publikationen:

Hildbrand, Mirjam: Theaterlobby attackiert Zirkus. Zur Wende im Kräfteverhältnis zweier Theaterformen zwischen 1869 und 1918 in Berlin. Fink 2023. (Open Access / Publikation online verfügbar)
Hildbrand, Mirjam & Künkel, För: „Streiflichter auf Künstlerinnen* der Berliner Zirkus- und Varietészene um 1900.“ In: Friederike Oberkrome & Lotte Schüßler (Hg.): Arbeiten zwischen Medien und Künsten. Feministische Perspektiven auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Neofelis 2023, S. 23–50.
Jürgens, Anna-Sophie & Hildbrand, Mirjam: Circus and the Avant-Gardes, History, Imaginary, Innovation. Routledge 2022.
Hildbrand, Mirjam: „A treasure trove for avant-garde artists? Metropolitan circus performances around 1900. In: Anna-Sophie Jürgens & Mirjam Hildbrand (eds.): Circus and the Avantgardes, History, Imaginary, Innovation. Routledge 2022, p. 19–36.
Hildbrand, Mirjam: „Zirkus, Theater und Spartendenken. Zur historisch gewachsenen unterschiedlichen Bewertung von Zirkus und Theater und ihre Auswirkung bis heute / Circus, theatre and the question of categories. On the tradition of differentiation between circus and theatre and its impact to this day.“ In: Theater der Zeit, Circus in flux, Zeitgenössischer Zirkus, Arbeitsbuch 31 (2022), S. 23–24.
Hildbrand, Mirjam: „Wohlauf, Richard Wagner aufs Pferd, aufs Pferd!“ In: Stefan Hulfeld (Hg.): Unerhörte Theatergeschichten. Hollitzer Verlag 2022, S. 11–29.
Hildbrand, Mirjam: „Theaterlobby gegen Zirkusunternehmen. Über die Aufwertung des „Theaters“ auf Kosten der zirzensischen Künste.“ In: Forum Modernes Theater, 30/1-2 (2019), Gunter Narr Verlag Tübingen, S. 19–33.

Coming Soon:
Hildbrand, Mirjam: „Zirkusformen“ (=Zeitgenössische Formen und Phänomene). In: Beate Hochholdinger-Reiterer u. Christina Thurner (Hg.): Theater und Tanz, Handbuch für Wissenschaft und Studium, Freiburg 2023.

Videobeiträge:

Zeitgeschichte Aargau: „Die Kunst der Überraschung. Zirkusgeschichten aus dem Aargau“, 2020.
Arte: „Köln, Zeitgenössische Zirkuskunst“, 2021.

[credits]

Das Forschungsprojekt war am Insitut für Theaterwissenschaft (ITW) der Universität Bern angesiedelt und wurde mit einem Doc.CH Beitrag des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) sowie einem Stipdendium der Janggen-Pöhn-Stiftung ermöglicht. Betreut wurde die Arbeit von Prof. Dr. Andreas Kotte (Universität Bern) und Prof. Dr. Annemarie Matzke (Universität Hildesheim).

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